Thomas Heise (V.O.)

Ein großes Warten auf etwas anderes

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le 14 octobre 2014

Seine ersten Dokumentarfilme machte Thomas Heise Ende der sechziger Jahre in der ehemaligen DDR, als Student  der Filmuniversität Babelsberg.  Anfang der achtziger Jahre verließ er diese Hochschule, als sein Film über die Geschichte von zwei Kriminellen Wozu denn über diese Leute einen Film 1980 zensiert wurde. Vor dem Mauerfall wurden  alle seine Filme auf die gleiche Weise behandelt: Sie wurden entweder zerstört, oder beschlagnahmt und verboten. In Material 2009 erzählt er die Geschichte der DDR mit audiovisuellem Archiv, darunter einige Interviews mit Gefangenen und ihren Wächtern. In seinem vorletzten Film Die Lage dokumentiert er in einem klinischen und traumhaften Schwarz-Weiß die präzise Vorbereitung des Besuchs des Papstes Benedikt XVI. in München. Heise arbeitet auch im Theater und nimmt bis 1997 am Berliner Ensemble teil. Er hat unter anderem Brecht und Heiner Müller inszeniert. 


Heises letzter Film Städtebewohner entsteht aus einer Bitte des Goethe-Institutes in Mexiko an den Theater- und Filmregisseur. Es geht darum, eine Inszenierung von Brecht mit Gefangenen des Jugendgefängnisses San Fernando  in Mexiko zu realisieren. Thomas Heise verbindet den Alltag in diesem Gefängnis mit Gedichtzyklus aus dem Lesebuch für Städtebewohner. Städtebewohner ist das Ergebnis von diesem unerwarteten Treffen. Die zehn Gedichte gelten als Überlebensführer für den einzelnen Menschen in der Großstadt. Sie dienen als Prüfstein des Dokumentars und werden dem Stoff des Films einverleibt. So wie in Die Lage wird die schwarz-weiße Fotografie mit beispielhafter Präzision ausgearbeitet und auch mit einer erstaunlichen Geschmeidigkeit. Das Erzählen geht schrittweise voran, von einer Strophe zur anderen, und wirkt sehr poetisch. Der Film versetzt uns in die verschiedenen Zonen dieser geschlossenen, jedoch relativ zugänglichen Welt. Die Glanzleistung beruht auf der beständigen Sanftheit und der rücksichtsvollen Distanzierung: Heise dokumentiert auch die Gewalt des Überlebenskampfes, indem er eingesperrte junge Menschen zeigt, deren Schicksal schon besiegelt ist.

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Débordements : Das Erzählen gleicht einem langsamen unmerklichen Fortschreiten. Warum?

Thomas Heise : Ganz praktisch war es so, dass das Team sich im Prinzip im Gefängnis bewegen konnte, dazu wurde viel Papier hergestellt und natürlich mussten wir immer durch die Schleusen mit den dabei stattfindenden Kontrollen, alles dauerte ewig, aber wir wurden nicht durch Beamte begleitet. Es kam vor, dass von einem Tag auf den andern irgendetwas plötzlich verboten war oder ein Sicherheitsoffizier schlechte Laune hatte. Es dauerte, einerseits Vertrauen zu Gefangenen und Wachen aufzubauen, gleichzeitig klarzumachen,dass man nicht zu instrumentalisieren ist, von wem auch immer. Von diesem schmalen Grat aus ist der Blick des Films eher anthropologisch. Die Form, klar voneinander getrennte Kapitel oder Strophen. Das manchmal Schwebende, erzählt wie eine alte Geschichte, lange vorbei.

Der Anfang ist eine staubige Landschaft irgendwo am Rande der Stadt. Und ein Gedicht Bertolt Brechts aus dem Jahr 1921, gesprochen von einer jungen Frau. Es geht um das Verschwinden eines Mannes und wie auch das Warten verschwindet und schließlich die Erinnerung daran. Nach dem Prolog „An M.“, das erste Kapitel, die erste Strophe, erste Beobachtungen, sich umsehend, dem folgend, was in den Blick gerät. Die Entlassung, die Neuankömmlinge, der Einzelne hinter Gittern der Strafzelle, die merkwürdige nächtliche Idylle des Haareschneidens im Gefängnishof und endend mit der ersten Strophe des vierten Psalms, direkt in die Kamera gesprochen von Ever. Die zweite beginnt im Schwarzen und mit dem Fahnehissen im Dunkel des Morgens, dem Gespräch über das Aufhören des Alten Offiziers, dann gibt es Frühstück und die weiße und schwarze Taube auf der Brüstung des Gefängnishofs, das Antreten der Gefangenen zur Lebendkontrolle, den Schichtwechsel und das Eintreffen der Besucher, schließlich den Dreien in der Zelle, die nicht hinaus können, schließlich Fußball und das Gespräch des jungen Paars, Marlene und Samuel, über die Zukunft, endend mit dem Schwenk über Weihnachtsbaum und spielende Kinder auf der Wiese mit den darauf lagernden Familien. Drittens dann als Block zwei Interviews, dann die Bemühungen zweier Evangelikaler um Ever und das Heraufkommen der Nacht bis zum Schwenk über den nächtlichen Hof mit der dritten Strophe des vierten Psalms am Ende.

Viertens Weihnachten mit Morgenappell, der Heilsarmee und dem Weihnachtsbesuch des Vaters von Irving. Irving, der sich vor dem Draußen fürchtet und un zu Weihnachten von seinem Vater erfährt, wo man hinschießt wenn man töten will. Schließlich das Verlassen der Area Verde die Rückkehr in die Stadt, der Bus der an den Stadtrand fährt, man sieht kaum Menschen bis auf ein paar am Straßenrand, den Verkäufer auf der Autobahn und schließlich der Psalm, wieder gesprochen von der jungen Frau, während des Fegens des Parkarbeiters. „..Und wer will wissen, was uns Wasser, Abende und Himmel sind.“ Die anfängliche Trennung in ich und du ist in diesem Psalm zu einem Wir geworden. Staub tanzt leuchtend im Schwarzen.

D : Warum haben Sie diese neo-romantische Musik gewählt?

T.H. : Es ist eine Komposition für diesen Film, mit der ich den jungen Komponisten Bowen Liu beauftragt habe. Er ist Meisterschüler bei Ulrich Reuter an der Filmuniversität Konrad Wolf in Potsdam Babelsberg. Es ging darum, die einzelnen Kapitel, oder eigentlich die Strophen des filmischen Gedichts – im Grunde ist es das – miteinander zu verbinden, auch den Ton des ersten der verwendeten Gedichte Brechts aufzunehmen. Das gibt es nicht nur an Anfang und Ende. Wir haben über Filmmusiken der fünfziger und sechziger Jahre gesprochen, was wiederum damit zu tun hat, dass ich natürlich Bunuels Los Olivdados im Kopf habe, wenn ich daran denke in einem mexikanischen Gefängnis Städtebewohner zu drehen. Ich habe in Mexico am Plaza Romita gewohnt in einem Haus gegenüber der Kirche, die in Bunuels Film auch zu sehen ist. Die Musik schafft auch Distanz oder Differenz zu den eher kargen Bildern, führt ins Allgemeine.

D : Ich habe den Eindruck, dass Sie das Gefängnismilieu nie als Soziologe beobachten. Der Unterschied zwischen Gefangenen und Gefängnisaufsehern scheint oft zu verschwinden. Warum wollten sie diese Diskrepanz immer verwischen?

T.H. : Der Unterschied ist denke ich sehr deutlich, die einen haben Schlüssel, Waffen und tragen eine schwarze Uniform, die anderen nicht, sie stehen frierend in Unterhosen vor ihrer Massenzelle und müssen ihren Körper zeigen und gehorchen. Beide Gruppen aber sind hinter Mauern und auch die Wachen erhalten Befehle. Ihre Aufenthaltsräume sind fensterlose enge und düstere Löcher. Ich denke auch an die Szene des morgendlichen Einkleidens das Verwandeln vom Zivilisten in den Uniformträger und wieder zurück. Wenn die Wachen nach dem Dienst das Gefängnis durch die Stahltür verlassen, sind sie nicht wieder zu erkennen, sehen nicht anders aus als die Gefangenen, sind nur etwas älter. Es geschieht nicht viel in diesem Gefängnis, es ist ein großes Warten auf etwas anderes.

D : Die Unterhaltung mit dem Gefangenen Samuel, der mit einer Mischung von Offenherzigkeit und Unbefangenheit von dem Horror seines alltags spricht, ist sehr beeindruckend.

T.H. : Horror entsteht erst durch Reflexion von Geschehen. Das Geschehen selbst ist es nicht. Bei Brecht heißt es: “Der Mensch ist brüchig, nicht brüchig genug.“ Und: „Der Mensch verhält sich wie’s ihm frommt.“ Das war mir im Kopf dabei. Die Gespräche waren ein Moment des näher einander Kennen Lernens. Es ging mir nicht darum, einen bestehenden Eindruck, ein fertiges Bild zu vermitteln, sondern zu entdecken und dem Zuschauer Gelegenheit zu geben dies auch zu tun.

Die Interviews wurden zwischen Weihnachten und Neujahr geführt. Das ist ein guter Moment dafür. Der einzige, an dem eine professionelle Dolmetscherin dazu kam. In dieser Zeit haben wir drei vom Team und unser unser inzwischen leider verstorbener Grafiker des Filmplakats, Mark Thomann, der während der Dreharbeiten mit Gefangenen eine Siebdruckwerkstatt betrieb, zwei Wochen im Gefängnis gelebt, haben es nicht verlassen. Wir hausten in einer aufgegebenen Massendusche Matratzen auf den Fliesen. Es zog durch die Mauern und stank erbärmlich von der defekten Kanalisation. Schon vorher hatten wir vom ersten Drehtag an immer mit den Gefangenen gemeinsam in der Schlange zum Essen im Speisesaal angestanden. Wir aßen dasselbe trostlose Futter wie sie am selben Tisch. Das war mir sehr wichtig und hat uns Respekt eingebracht. Beim Essen kommt man ins Gespräch. Während der Interviews war keine weitere Person im Raum, es war, wenn man so will ein freies Gespräch unter Freunden. Wir mochten uns. Die Widersprüchlichkeit interessierte mich.

Aber ich erinnere auch sichtbare Enttäuschung, als wir das Gefängnis wieder verließen. Der Film Städtedewohener ist meine Antwort auf diese Enttäuschung. Er zeigt nicht das Besondere, sondern das Alltägliche. Das, was ich in San Fernando gesehen und verstanden habe.

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D : Ein Interview führt oft dazu, dass die autobiografische Rede des Interviewten sein Identitäts- und Verantwortungsgefühl verrät. Aber der Junge scheint total unbewusst. Das Gesetz des Verbrechermilieus ist die einzige Erklärung für sein Leben. Was halten Sie davon?

T.H. : Das mag vielleicht für Ever gelten, den ich auch deswegen gern interviewen wollte. Andererseits kommt er aus keinem Verbrechermilieu. Ich glaube er beschreibt seine Motive ganz gut. Auch Samuel ist ehrlich und glaubt, was er sagt. Ich habe seine Unschuldserklärung nicht hinterfragt, auch um ihn zu schützen. Es ist durchaus so, dass mitunter nicht volljährige, die zu dieser Zeit in Mexico D.F. nur eine Höchststrafe von 5 Jahren, egal für welche Straftat einschließlich Morde bekommen können, als Stellvertreter handeln und Straftaten begehen wie Ever oder für Taten einstehen, um dafür Geld zu bekommen.

Ich weiß nicht, was wirklich ist. Aber wenn sie Brechts Gedichtzyklus Lesebuch für Städtebewohner aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts lesen, treffen sie auf gleiche Figuren.

D : Diese Unterhaltung könnte ein emotionale Klimax des Films sein, aber sie ist überhaupt frei von jedem Pathos. Auch dieses Element ist distanziert. Ist diese Distanzierung wichtig für Sie? Was ermöglicht sie?

T.H. : Es ist wichtig Distanz zum Gegenstand zu haben. Es geht immer darum, sich auf einer Grenze zu bewegen, um dieses Flirren zwischen Nähe einerseits und kaltem Denken zu halten.

D : Ihre Vision des Gefängnisses scheint mir entschieden mehr politisch als ethisch. Haben sie es gewählt, die Stadt und die Bauarbeiter am Beginn und Ende des Films zu zeigen, um die Ähnlichkeit zwischen den Gefangenen und den bescheidenen Bewohnern anzudeuten ?

T.H. : Es gibt eine sehr schöne Glosse von Marx zur Produktivität von Verbrechen, den habe ich mit den Gefangenen zusammen gelesen.

D : Anders als Brecht, haben Sie sich von anderen literarischen oder philosophischen Quellen inspirieren lassen ?

T.H. : Ich glaube nicht, der Brecht hat eine Rolle gespielt, meine Theaterarbeit in den Neunzigern am Berliner Ensemble, Heiner Müller, Fritz Marquardt und eben Bunuel. Das kann ich so gar nicht benennen. Es ist nicht die erste und einzige Arbeit in denen Gefängnisse eine Rolle spielen, auch als Bild für etwas anderes. Mein allererster Film mit Ton hieß Wozu denn über diese Leute einen Film? Er handelt von zwei Kleinkriminellen. Der brachte mir 1980 viel Ärger an der Filmhochschule ein, vielleicht ein Grund, darauf zu bestehen. Die Ränder zermahlen das Zentrum.

D : Die schwarz-weiße Fotografie hat in Ihrem Film eine eigenartige Qualität. Die Farbunterschiede und das Licht sind sanft. Ich hatte den Eindruck, dass der Horror des Gefängnisses durch diese Geschmeidigkeit des Lichts sozusagen aufgelöst wurde. Wollten sie eben diesen Effekt schaffen?

T.H. : Ein Gefängnis ist Spiegel der Gesellschaft draußen und enthält alles, was diese enthält. Und es gab darin Bilder zu sehen, betörend in ihrer Alltäglichkeit. Wie der in der Strafzelle wie ein Panther auf und ab gehende Arturo, aber auch an Besuchstagen das Ruhen der Eltern bei ihren Kindern auf einer Decke in den Gefängnishöfen, das gemeinsame Lagern und Essen in der Area Verde, die ja Teil des Gefängnisses ist. Ich sah an Besuchstagen immer wieder Söhne deren Kopf im Schoß ihrer über sie wachenden Mutter ruhte, das hatte Schönheit und war sehr friedvoll, milde. Auch die Kinder, die unbefangen dort zwischen den Familien spielten und herumwatschelnde Enten jagten.

Es gibt nach der Entlassung des einen der Jungen – er heißt Oscar – als die Kamera nicht diesem in die Stadt folgt, sondern im Gefängnis bleibt, einen Moment, wo einer tief deprimiert im Hof am Boden hockt, und ein anderer zu ihm geht und ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter legt, ihn tröstet. Solche Dinge haben mich sehr beeindruckt.

Das schwarz weiße Bild hat etwas Verallgemeinerndes in der Wirkung. Es war von Anfang an so entschieden.

D : Sehnen Sie sich nach dem schwarzweißen Film ?

T.H. : „Einfachheit ohne Buntheit“ sagt der Ikonenmaler Andrej Rubljow. Das schließt Farbe nicht zwingend aus. Es geht nicht um ein Sehnen, ein Gefühl, es geht um praktische Arbeit, um Klarheit.

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